Dr. Jan B. Krauß
Partner - Patentanwalt
16.12.2024
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Artikel

Vertraut aber doch etwas anders - erste Erfahrungen mit der Patentierbarkeit vor dem Einheitlichen Patentgericht (UPC)

Vertraut, aber doch etwas anders - erste Erfahrungen mit der Patentierbarkeit vor dem Einheitlichen Patentgericht (UPC)

Nach einer Reihe von Entscheidungen, die sich vor allem auf formale Fragen am UPC beziehen, ist es nun endlich an der Zeit, einen Blick auf die ersten Entscheidungen zur Patentierbarkeit zu werfen. Können wir bereits erkennen, wie das UPC mit materiell rechtlichen Fragen der Patentierbarkeit umgeht?

Die erste Entscheidung („Nichtigkeit 1“)[1], die hier von Interesse ist, wurde vom Gericht erster Instanz der Zentralkammer des Einheitlichen Patentgerichts (Sektion München) am 16. Juli 2024 erlassen und betraf ein Biotechnologiepatent, EP 3 666 797 B1. Die Entscheidung erging im Nichtigkeitsverfahren ACT_459505/2023 UPC_CFI_1/2023 („Sanofi gegen Amgen“) und ist noch anfechtbar.

Die zweite Entscheidung („Nichtigkeit 2“)[2] erging am 19. Juli 2024 durch das Gericht erster Instanz der Zentralkammer des Einheitlichen Patentgerichts mit Sitz in Paris und betraf ein medizintechnisches Patent, EP 3 646 825 B1. Diese Entscheidung erging im Rahmen des Nichtigkeitsverfahrens ACT_551308/2023 UPC_CFI_255/2023 („Meril vs. Edwards Lifesciences“) und ist ebenfalls anfechtbar.

Wir erinnern uns, dass das UPC ausschließlich für Klagen auf Nichtigerklärung von Patenten und Widerklagen auf Nichtigerklärung von Patenten zuständig ist. Nichtigkeitsklagen werden vor der Zentralkammer verhandelt (Art. 33 Abs. 4 UPCA), es sei denn, es wurde ein Verletzungsverfahren eingeleitet.

Als Hauptgründe für den Widerruf können fehlende Neuheit, fehlende erfinderische Tätigkeit, unzureichende Offenbarung, hinzugefügter Stoff sowie ein Ausschluss von der Patentierbarkeit geltend gemacht werden (Art. 65 Nr. 2 Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ), und Art. 138(1) und 139(2)[3] EPÜ).

Folglich machten die Kläger in Nichtigkeit 1 geltend, dass das Patent so geändert worden sei, dass es einen Gegenstand enthalte, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe, dass die Erfindung nicht so klar und vollständig offenbart sei, dass sie von einem Fachmann ausgeführt werden könne, dass sie nicht neu sei und/oder dass sie nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

In der Nichtigkeitsklage 2 wurde die Nichtigkeit mit einer Erweiterung des Gegenstands über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus, der fehlenden befähigenden Offenbarung, der fehlenden Neuheit von Anspruch 1 im Hinblick auf WO 2012/48035 („Levi“), WO 2011/109801 („Benichou“) und WO 01/28459 („Dimatteo“) begründet; das Fehlen einer erfinderischen Tätigkeit, wenn man als nächstliegenden Stand der Technik Levi oder eine Kombination aus dem Melody-Ventil und seinem Transkathetersystem Ensemble und dem im Fontaine-Artikel offenbarten Stent annimmt.

Während - richtig - in der Literatur festgestellt wurde, dass sich bei der Erlangung von UP-Patenten durch das Europäische Patentamt (EPA) in Bezug auf die Patentierbarkeit nichts geändert hat, bleibt die Frage, wer wirklich über die Patentierbarkeit „entscheidet“, wenn es um Nichtigkeitsverfahren vor dem UPC geht.

Bislang gibt es für das UPC kein in sich geschlossenes, unabhängiges System des verfahrensrechtlichen und materiellen Patentrechts. Die Artikel 20 und 24 des UPCA stellen klar, dass das Gericht seine Entscheidungen auf Folgendes stützt: das Unionsrecht, das UPCA, das EPÜ, andere internationale Übereinkommen, die auf Patente anwendbar und für alle Vertragsstaaten (d. h. mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs) verbindlich sind, und - in begrenztem Umfang - auf das nationale Recht oder sogar auf Nichtvertragsstaaten.

Erstens ist es im Gegensatz zur obigen Aussage sehr wahrscheinlich, dass es im Laufe der Zeit ein weitgehend unabhängiges System geben wird, da die Entscheidungen des UPC als Unionsrecht zu qualifizieren sind und daher Vorrang haben. In den nachstehend erörterten Nichtigkeitsentscheidungen wurde die Rechtsprechung des UPC zitiert, z. B. UPC_CoA_335/2023, NanoString/10x Genomics, und CoA UPC 13. Mai 2024, VusionGroup/Hanshow.

Zweitens muss gesehen werden, ob sich tatsächlich „nicht viel im Vergleich zur derzeitigen Praxis in den Mitgliedstaaten ändern wird“, wie einige Praktiker auf diesem Gebiet behaupteten.

In der Tat ist es unklar, inwieweit das UPC die ständige nationale Rechtsprechung berücksichtigen wird. Da eine Harmonisierung angestrebt wird, sollte die teilweise divergierende nationale Rechtsprechung letztlich nicht die Hauptgrundlage für Entscheidungen sein. Allerdings spricht derzeit nichts dagegen, dass die Richter des UPC bei der Auslegung des neuen Rechts Grundsätze der nationalen Rechtsprechung anwenden, bis der Court of Appeal seine eigene Rechtsprechung entwickelt hat.

Die Unterschiede bei der Beurteilung der Patentierbarkeit zwischen dem EPA und dem deutschen Patentgericht sind ein Paradebeispiel dafür. Insbesondere auf dem Gebiet der Life Sciences können diese Unterschiede von Bedeutung sein. So verlangt § 1a (4) PatG, dass in einen auf bestimmte Nukleinsäuresequenzen gerichteten Anspruch die konkrete gewerbliche Anwendbarkeit aufgenommen wird. Dieses Erfordernis findet sich im EPÜ nicht. Könnte dies zu einer Einschränkung des Umfangs eines UP vor einem deutschen Gericht im Hinblick auf die erforderliche Harmonisierung führen? Wäre ein solcher Anspruch wegen mangelnder gewerblicher Anwendbarkeit der UP nichtig?

Etwas dramatischer ist ein voraussichtlicher Neuheitsmangel aufgrund eines nationalen älteren Rechts nach § 3(2) PatG (ähnlich Art. 54(3) EPÜ). Wie bereits erwähnt, sieht Art. 139(2) EPÜ die Anerkennung nationaler Rechte vor, aber das UP kann nicht nur auf nationaler Ebene für ungültig erklärt oder beschränkt werden. Es ist völlig unklar, wie dies vom UPC gehandhabt werden wird, vielleicht wird ein Einheitspatent in einem der Mitgliedsstaaten nicht durchsetzbar sein.

Schließlich, und das ist das Wichtigste, kann ein deutsches Patentgericht nach der deutschen Rechtsprechung bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nicht (nur) den EPA-Problem-Solution-Ansatz anwenden. Das technische Problem, das einer Erfindung zugrunde liegt, kann nicht allein auf den durch die Erfindung erzielten Vorteilen beruhen. Selbst wenn die Erfindung beispielsweise Vorteile bietet, die zuvor unerreichbar waren, können diese Vorteile nicht das Problem definieren, das die Erfindung lösen soll. Außerdem kann es je nach Gebiet und Umständen mehrere Möglichkeiten geben, ein technisches Problem anzugehen, und verschiedene Lösungen können gleichermaßen plausibel sein (z. B. Urteil BGH vom 11.11.2014 - X ZR 128/09 - Repaglinid). Auch andere Entscheidungen in Deutschland lehnen die „statische“ und „ex post“ Anwendung des Problem-Solution-Ansatzes ab.


Wie hat das UPC nun die Frage der erfinderischen Tätigkeit in den oben genannten Fällen Nullity 1 (Zentralkammer in München) und Nullity 2 (Zentralkammer in Paris) analysiert?

In der Nichtigkeitssache 1 kam die Zentralkammer zu dem Schluss, dass das Patent in der erteilten Fassung ungültig ist, weil es nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber Lagace beruht. Der Fachmann, der an der Entwicklung einer auf PCSK9 abzielenden Behandlung der Hypercholesterinämie interessiert sei, würde, ausgehend von und in Anlehnung an die Lehre von Lagace, ohne erfinderische Tätigkeit Antikörper gegen PCSK9 entwickeln, die die Wechselwirkung von PCSK9 mit dem LDLR blockieren, und würde dadurch auf naheliegende Weise zum beanspruchten Gegenstand gelangen.

In Punkt 5.16 der Entscheidung heißt es: „Vor dem oben genannten Hintergrund formuliert das Patent kein konkretes zugrundeliegendes Problem. Ungeachtet dessen kann aus der Beschreibung des Patents als Ganzes abgeleitet werden, dass das Ziel des Patents darin besteht, eine Behandlung oder Vorbeugung von Hypercholesterinämie oder atherosklerotischen Erkrankungen bereitzustellen ...“.

Gemäß Punkt 8.5 ist „die erfinderische Tätigkeit aus der Sicht des Fachmanns auf der Grundlage des gesamten Stands der Technik einschließlich des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns zu beurteilen“.

Das Gericht suchte dann nach einem „realistischen Ausgangspunkt“ im Stand der Technik und wies darauf hin, dass es mehrere realistische Ausgangspunkte geben könne. Es sei nicht erforderlich, den „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt zu ermitteln (Punkt 8.6).

Gemäß den Nummern 8.9 und 8.10 kann auch eine technische Wirkung oder ein Vorteil, die bzw. der durch den beanspruchten Gegenstand im Vergleich zum Stand der Technik erzielt wird, ein Indiz für erfinderische Tätigkeit sein. Ein Merkmal, das willkürlich aus mehreren Möglichkeiten ausgewählt wird, kann im Allgemeinen nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen. Die Zentralabteilung betonte besonders, dass eine rückblickende Betrachtung vermieden werden muss. Die Frage der erfinderischen Tätigkeit sollte nicht dadurch beantwortet werden, dass in Kenntnis des patentierten Gegenstands oder der patentierten Lösung im Nachhinein nach (kombinierten) Offenbarungen des Stands der Technik gesucht wird, aus denen diese Lösung abgeleitet werden könnte.

Nach einer ausführlichen Analyse der technologischen Argumente und sekundärer Faktoren, wie der Erfolgsaussichten, fasste das Gericht in Punkt 8.82 zusammen, dass der Fachmann, ausgehend von Lagace als realistischem Ausgangspunkt im Stand der Technik, ohne erfinderische Fähigkeiten zu dem beanspruchten Gegenstand gelangen würde. Das Patent wurde daraufhin in seiner Gesamtheit widerrufen (Punkt 9.8).

In der Nichtigkeitssache 2 kam die Zentralkammer zu dem Schluss, dass das Patent in der erteilten Fassung in geänderter Form rechtsbeständig sei. Interessanterweise setzte das Gericht dabei offenbar einen großzügigeren Maßstab im Rahmen von Art. 123(2) EPÜ an, als man es von einigen Kammern des EPA erwarten könnte (Punkt 70 der Entscheidung).

Was die erfinderische Tätigkeit betrifft, so wurde in Nichtigkeit 2 kein nächstliegender Stand der Technik definiert. In Randnummer 130 heißt es, es sei zu prüfen, ob ein Fachmann beim gegebenen Stand der Technik mit seinen technischen Kenntnissen und einfachen Handgriffen zu der im Patent beanspruchten technischen Lösung gelangt wäre. Die erfinderische Tätigkeit wird anhand des spezifischen Problems beurteilt, auf das der Fachmann gestoßen ist (unter Bezugnahme auf Punkt 23.2 der Entscheidung der Pariser Lokalabteilung vom 3. Juli 2024, Fall UPC_CFI_230/2023)[4].

Nach einer Analyse des Stands der Technik wurde das erteilte Patent in einer geänderten „vollständig hexagonalen“ Form der Herzklappenprothese aufrechterhalten.

Von besonderem Interesse ist, dass das Gericht „abschließende Bemerkungen“ zur Analyse der erfinderischen Tätigkeit machte.

In den Ziffern 153 bis 155 heißt es: „Dem Gremium ist bekannt, dass das EPA und einige nationale Gerichte bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit den so genannten ‚Problemlösungsansatz‘ anwenden. Bei diesem Ansatz bestimmt der Richter den ‚nächstliegenden Stand der Technik‘, definiert dann das zu lösende ‚objektive technische Problem‘ und prüft schließlich, ob die beanspruchte Erfindung ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik und dem objektiven technischen Problem für den Fachmann naheliegend gewesen wäre oder nicht. Diese Prüfung ist im EPÜ nicht ausdrücklich vorgesehen und scheint daher nicht zwingend zu sein. (Hervorhebung hinzugefügt)

Unabhängig davon würde die Anwendung des ‚Problemlösungsansatzes‘ auf das vorliegende Verfahren nicht zu einem anderen Ergebnis führen. In der Tat identifiziert das Gremium ‚Levi‘ als den nächstliegenden Stand der Technik, weil es dasselbe technische Problem wie das Streitpatent behandelt und in dasselbe Gebiet wie die beanspruchte Erfindung fällt.

Es ist richtig, dass der Problemlösungsansatz im EPÜ nicht ausdrücklich vorgesehen ist, aber seine Anwendung scheint beim EPA obligatorisch zu sein, wie auch die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer zeigt (siehe z. B. Punkt 24 der Entscheidung G2/21).

Was können die Nutzer des UPC nun aus den oben genannten Entscheidungen lernen?

Erstens sind die Nichtigkeitsverfahren beim UPC in der Tat recht schnell.
Zweitens ist es tatsächlich möglich, ein Einheitspatent in einem UPC-Widerrufsverfahren zu verlieren oder zumindest nur mit Änderungen aufrechtzuerhalten.
Drittens scheint es, dass die Anwendung der Regeln bezüglich des Art. 123(2) EPÜ nicht so streng angewandt wird, wie vor dem EPA.
Viertens wurde sowohl bei Nichtigkeit 1 als auch bei Nichtigkeit 2 der Problem-Solution-Ansatz des EPA nicht angewandt. Vielmehr scheint es, dass die angewandten Analysen den nationalen Ansätzen in Deutschland bzw. Frankreich sehr ähnlich sind. Die Pariser Zentralkammer vertrat die Auffassung, dass die Anwendung des „Problem-Solution-Ansatz“ im vorliegenden Verfahren nicht zu einem anderen Ergebnis führen würde, brach den Vergleich jedoch nach der Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik ab.

Zusammengefasst scheint sich das UPC in Sachen Patentierbarkeit nicht strikt an der Praxis des EPA zu orientieren, sondern ist vielmehr auf dem Weg, eigene Standards zu schaffen. Diese Standards enthalten bisher durchaus Elemente des nationalen Rechts, vielleicht sogar je nach Sitz der Kammer. Sowohl Patentinhaber als auch potenzielle Gegner müssen diese Unterschiede sorgfältig berücksichtigen, wenn sie sich für die Erteilung eines Einheitspatents entscheiden, wenn sie ein Opt-out wählen oder wenn es um Nichtigkeits- und Widerklagen geht.

* Dr. Jan B. Krauss, Patentanwalt, European Patent Attorney, Vertreter vor dem UPC, Partner Life Sciences bei SKM-IP PartGmbB, München

[1] https://www.unified-patent-court.org/sites/default/files/ files/api_order/7BD3093D60CBD34C06940FCA0C598CEE_en.pdf

[2] https://www.unified-patent-court.org/sites/default/files/ files/api_order/21F793967A39FFC2BB1455CB3C788D2B_en.pdf

[3] Es ist noch unklar, wie dies mit Art. 3(2) derVerordnung (EU) Nr. 1257/2012 im Falle von nationalen älteren Rechten zusammengeht (siehe auch Text weiter unten). Die FAQ-Seite des EPG wirft dieFrage auf, beantwortet sie aber nur für Vorbenutzungsrechte, Art. 28 EPGÜ(https://www.unified-patent-court.org/en/faq/sources-law-and-substantive-patent-law)

[4] https://www.unified-patent-court.org/sites/default/files/ files/api_order/8B08C53E1E2722DE9690B9C0BDAE0AEC_en.pdf